Ein zweites Mal erwachsen werden
Der Tag an dem sich meine Welt auf den Kopf stellte
Es ist der 12. April 2021. Ich bin gerade im zweiten Semester meines Bachelorstudiums. Ich stehe früh auf und mache mich auf den Weg zu meinem Minijob. Meine Aufgabe ist es, bei einem bekannten Einrichtungshaus darauf zu achten, dass die geltenden Corona-Maßnahmen von den Kunden eingehalten werden. Den ganzen Tag über kontrolliere ich Schnelltests, Impfpässe und die Einhaltung der Maskenpflicht. Eine monotone Aufgabe, aber immerhin eine Beschäftigung außerhalb meiner eigenen vier Wände, und die Möglichkeit, etwas Geld zu verdienen. Seit ein paar Tagen verspüre ich leichte Bauchschmerzen und ständigen Hunger. Nichts Ungewöhnliches in Anbetracht der Tatsache, dass ich kurz vor meiner Periode stehe. Um ehrlich zu sein, bin ich etwas spät dran diesen Monat. Aber das passiert schon mal, oder? Ich bin etwas unruhig, aufgeregt, nervös. Was ist, wenn…? Nein, das kann nicht sein. Es ist noch früh am Morgen. Ich nehme mir vor, nicht weiter darüber nachzudenken, doch es will mir nicht gelingen. Ich nehme mir vor, einen Test zu machen, sollten sich meine Sorgen bis zum Ende des Tages nicht von selbst erledigen, nur zur Sicherheit.
Ich bin auf Arbeit und werde immer nervöser. Jede Stunde gehe ich auf Toilette, doch es will einfach nicht passieren. Es ist Abend. Immer noch Nichts. Egal, es wird schon nicht so sein. Auf dem Heimweg gehe ich noch schnell einkaufen. Ich brauche Nudeln, Tomaten, Käse und … - einen Schwangerschaftstest. Ich laufe nach Hause, wühle in meiner Tasche nach meinem Schlüssel, schließ die Tür auf, gehe die Treppen hoch, in meine Wohnung und sofort ins Bad. Meine Hände zittern, als ich den Test mache. Die drei Minuten Wartezeit fühlen sich wie Stunden an. Mein Herz rast, und die Gedanken schießen mir durch den Kopf. Das Ergebnis ist da. In mir zieht sich alles zusammen. Mein ganzer Körper ist angespannt. Mein Blick wandert zwischen der Testanzeige und der Legende in der Gebrauchsanweisung hin und her. Immer wieder. Hin und Her. Kann das sein? Lese ich das richtig? Ich kann es nicht glauben. Ich bin tatsächlich schwanger.
Hilfe, dein Körper verändert sich!
Es sind nun einige Wochen vergangen, und der erste Schock ist verdaut. Es machen sich Gefühle der Freude in mir breit, und ich bin voller Enthusiasmus und Zuversicht, meine Karriere und die Erziehung meines Kindes unter einen Hut bringen zu können. Ich habe die Unterstützung meiner Familie, und alle freuen sich wahnsinnig auf das kleine Mädchen, das uns im Dezember begrüßen wird. Immer mehr Menschen in meinem Umfeld erfahren von meiner Schwangerschaft und beglückwünschen mich, doch so langsam fühle ich mich auch zunehmend mit Stereotypen konfrontiert und habe das Gefühl, auf meine Schwangerschaft reduziert zu werden. Viele erkennen nur noch die werdende Mutter in mir, und Freunde melden sich nicht mehr. Als wäre ich aufgrund meiner Schwangerschaft nicht mehr existent. Ich habe das Gefühl, dass generell alles, was ich tue, wie ich mich bewege, was ich esse und was ich sage auf meine Schwangerschaft und nicht auf mich selbst zurückgeführt wird.
Ich erinnere mich an eine spezifische Situation beim Schulanfang meiner kleinen Schwester. Die ganze Familie ist versammelt, und wir essen gemeinsam zu Mittag, plaudern etwas und nachher gibt es noch Kaffee und Kuchen. Ich gehe also ans Buffet und bediene mich am Angebot. Ich nehme mir extra weniger Essen mit, als ich eigentlich möchte, da ich die Kommentare über mein Essverhalten leid bin. Alle beginnen zu Essen. Eine normale Situation, doch sobald ich ebenfalls esse, prasseln gleich die Kommentare auf mich ein. Ich höre Sätze wie „Oh wie niedlich, guck mal! Die Schwangere isst Kuchen“ oder „Bist du sicher, dass da nur ein Kind drin ist, so viel Appetit wie du hast?“. Es ist schon absurd, dass eine Schwangerschaft solche Kommentare für einige Menschen zu rechtfertigen scheint. Als ob es plötzlich total normal und okay wäre, den Körper und das Essverhalten einer Person in einem solchen Ausmaß zu kommentieren und zu bewerten, und als ob sich diese Person dem einfach so hingeben müsse, aufgrund ihres Zustands. Als ob solche Aussagen mit einem positiven Schwangerschaftstestergebnis plötzlich nicht mehr verletzend und unangebracht seien. Diese Bewertungen sind dabei nicht nur lästig, sondern sie schaffen auch Probleme, wo vorher keine waren. Mir war klar, dass mein Körper wohl kaum ein Lebewesen aus dem Nichts wachsen lassen kann, ohne sich nicht zu verändern. Doch solche Aussagen schüren Unsicherheit, geben einem das Gefühl, es sei nicht richtig oder man sei nicht gut genug, wenn sich der Körper zu sehr verändert. Was dabei dieses „zu sehr“ ist, wird dabei nicht von der Schwangeren entschieden, sondern vor allem von der Gesellschaft. Hinzu kommt, dass diese Aussagen mitschwingen lassen, dass man nur glücklich und zufrieden sein könne, wenn die Figur schlank ist und dem typischen Schönheitsideal unserer heutigen Zeit entspricht. Dabei hängen Unsicherheit und Unzufriedenheit nicht davon ab, wie man aussieht, sondern vom eigenen Selbstwertgefühl und Selbstbewusstsein.
Auf die eigenen Instinkte hören
Wir wagen nun einen weiteren Zeitsprung und befinden uns im Dezember 2021. Meine Tochter ist seit wenigen Tagen auf der Welt, und wir genießen die gemeinsame Zeit. Alle um mich herum sind entzückt von dem kleinen Wesen, dass ab nun der Mittelpunkt meines Lebens sein wird. Wir kuscheln den ganzen Tag und sind dabei, uns kennenzulernen. Sie ist ein sehr entspanntes Baby, ein richtiges Einsteigerkind. Heute ist der Tag, an dem meine Schwiegermutter erstmals nach der Geburt ihrer Enkelin zu Besuch kommen wird, um das kleine Mädchen kennenzulernen. Ich höre sie die Treppen rauf kommen und wie sie sich mit meinem damaligen Freund unterhält. Sie erreichen den Flur und ich bekomme mit, wie er ihr erzählt, dass unser Neugeborenes nicht allein schlafen möchte und daher bei uns im Bett schläft, um unsere Wärme und Nähe zu spüren. Noch bevor meine Schwiegermutter den Raum betritt, mich zum ersten Mal nach der Geburt sieht und ihre Enkelin zum ersten Mal trifft höre ich sie sagen: „Das müsst ihr der Kleinen aber ganz schnell wieder abgewöhnen, sonst wird sie nie lernen allein zu schlafen. Ein Kind muss in seinem eigenen Bett schlafen, und das muss es auch von Anfang an lernen. Da schreit es eben auch mal, das ist gut für die Lungen und außerdem merkt sie sich, dass sie nicht bekommt, was sie will, wenn sie schreit“. In mir steigt die Wut und zugleich Verunsicherung. Ich verstehe nicht, wie man sich erlauben kann, frisch gebackenen Eltern sofort in die Erziehung reinzureden und alte Erziehungsmethoden zu propagieren. Diese Art von Erziehung mag vielleicht für sie und ihre Kinder funktioniert haben, aber das bedeutet noch lange nicht, dass sie auch für mich und meine Tochter funktioniert. Zumal die Ansicht, man müsse ein Kind auch mal schreien lassen, veraltet ist. Solche Erziehungsmethoden stammen aus der dunklen Zeit des Nationalsozialismus und haben sich bis heute in den Köpfen einiger Menschen gehalten. Ich weiß das, und trotzdem verunsichert sie mich mit dieser Aussage. Hat sie vielleicht doch Recht? Ich habe schließlich noch nie ein Kind erzogen. Aber es fühlt sich richtig an, meine Tochter auch in der Nacht pausenlos bei mir zu haben, zumal sie sich auch sicher bei mir fühlt. Ich entscheide mich dagegen, den Rat meiner Schwiegermutter anzunehmen und höre weiterhin auf meinen Instinkt. Am nächsten Tag bespreche ich die Situation mit meiner Hebamme, die mich in meinem Handeln bestätigt. Auch sie sagt, ich solle das tun, was sich für mich richtig anfühlt und nicht gegen meine Bedürfnisse und die meines Kindes arbeiten. Solange ich mich wohl fühle und meine Tochter auch, machen wir alles richtig, vor allem so kurz nach der Geburt. Man stelle sich die Situation auch mal für die Kleinen vor: Neugeborene kennen nichts, außer den Herzschlag und die Wärme der Mutter. Neun Monate verbringen sie in einer warmen und sicheren Höhle, bevor sie auf die Welt kommen, und dann sollen sie plötzlich ganz allein und komplett abgekapselt von der Mutter schlafen. Dagegen würde ich mich auch sträuben.
Gemeinsames Wachsen
Solche Situationen sollen mir noch häufiger passieren. Menschen werden immer versuchen, sich in die Erziehung anderer Kinder einzumischen. Egal ob Familie, Freunde oder Fremde auf der Straße. Es ist lästig, und ich habe das Gefühl, dass mir so etwas häufiger passiert, aufgrund meines jungen Alters. Die Menschen sehen mich auf der Straße mit meinem Kind, und mal bekomme ich freundliche und anerkennende Blicke und Kommentare in Bezug auf meine Mutterschaft, und manchmal begegne ich Verachtung und der Sorge fremder Menschen um meine Tochter und wie ich es schaffen soll, sie zu erziehen. Was ich gelernt habe ist, nicht auf die negativen Meinungen zu hören und dass ich keine Ratschläge befolgen muss, die mich nicht überzeugen. Kinder werden groß, alle. Kinder verändern sich so schnell und mit ihrem Wachstum und ihren Veränderungen wachsen auch die Aufgaben der Eltern. Aber das Schöne ist, dass man mitwächst. Man verändert sich, man wird ein zweites Mal erwachsen und man muss nicht gegen sein Kind arbeiten, um einen guten Menschen zu erziehen, im Gegenteil. Genauso wie die Kinder von einem selbst lernen, kann man auch von den Kindern lernen. Für mich ist das Wichtigste die Bedürfnisse meiner Tochter genauso zu achten und zu berücksichtigen wie meine eigenen und beide in Einklang miteinander zu bringen. So geht es meiner Tochter gut, und so geht es mir gut, und wir arbeiten nicht gegeneinander, sondern miteinander.