Venedig – Muss das sein?
ÜBERFÜLLT-
das ist das erste Wort, was mir zu Venedig einfällt. Die Türen des Busses öffnen sich quietschend und ich springe mit den anderen Touristen auf die von der Sonne erhitzten Steine. ÜBERFÜLLT. Das war Venedig auf jeden Fall. Man sieht es schon auf den ersten Blick. Wie eine aufgebaute Kulisse ragt die Stadt vor mir auf. Hunderte Touristen strömen durch das Labyrinth aus engen Gassen, wie ein stetiger Strom auf der Suche nach der perfekten romantischen Erfahrung in der „Stadt der Liebe“. Ich bin mir sicher, dass sich die Menschen insgeheim streiten, ob Venedig oder Paris diesen Namen verdient haben.Zwischen Traum und Realität
Gefühlschaos?
Hier zu sein fühlt sich an, wie in eine andere Welt einzutauchen. Alles ist anders, fast nichts wie ich es kenne. Alles fühlt sich fremd an. Die Bauart der Häuser, die kunstvollen Statuen, das Wetter und die Sonne, die hier auf eine andere, extremere Art heiß strahlt, das Gefühl im Süden zu sein und die Mentalität der Italiener. Der Himmel hier ist blauer und die Luft riecht nach Sommer. Die mir in Deutschland auferlegte automatische Hektik fällt trotz der Menschenmaßen wie ein dicker Mantel von mir ab und die Schwere, die mich die letzten Monate in Deutschland erdrückt hat, ist verschwunden. Das Gefühl ist unbeschreiblich. Selbst die Atmosphäre fühlt sich friedlicher an. Aber gleichzeitig überkommen mich auch andere Gefühle. Ich fühle mich, als würde ich in dem Meer aus Menschen ertrinken. Es ist mittags und die Sonne, deren Wärme mir eigentlich gefällt, hat gerade ihren höchsten Stand erreicht. Es sind um die 40 Grad, schätze ich. Sengende Hitze drückt mich nieder. Trotz der kurzen Kleidung, die ich trage, ist mir viel zu warm. Mir bleibt nichts anderes übrig, als dem Strom hinein in die Stadt zu folgen, neben mir die uralten Gebäude, die mir flüsternd und wispernd ihre Geschichte erzählen wollen.
Venedig – Ein Blick hinter die Fassaden
Die gedanklich aufgebaute Illusion einer perfekten Stadt und der eben aufgezählten optimalen Erfahrung bekommt erste Risse, als ich durch die Gassen laufe. Dicht gedrängt an fremde Menschen, die mir gelegentlich ihre Ellbogen in die Rippen stoßen, um sich an mir vorbeizuschieben, werde ich durch die Gassen gezogen. Vorbei an der schönen Architektur, auf die ich nur ab und zu einen kurzen Blick erhasche. Ich schaffe es, mich aus der Masse zu befreien und in eine besonders enge Gasse zu schieben. Dieser folgend komme ich an einem Ufer an, von dem aus ich einen Blick in den Kanal werfe. Dunkelgrünes, fast braunes Wasser schwappt über die mit Muscheln und Algen übersäten Stufen, die in den Kanal führen und ein fischiger Geruch nach abgestandenem Wasser kommt mir entgegen. Das sind also die traumhaften Kanäle Venedigs? Stellt man sich das so vor? Als ich mich umsehe und die Häuser genauer betrachte, fällt mir auf, dass sie allesamt Risse haben, die Fassade bröckelt und der Staub der Vergangenheit sammelt sich in den Ritzen. Es sind alte Häuser, gezeichnet von Stürmen und von der fast täglich auf sie niederbrennenden Sonne. Venedig hinter den Fassaden - das klingt doch ganz passend.
Italiener – doch nicht so sympathisch?
Ich spüre, wie ich Durst bekomme und lasse mich wieder von den Massen verschlingen. Meine Kehle fühlt sich von der Hitze ganz ausgedörrt an. Ich bin in einem Viertel von Venedig, in dem sich Restaurant an Restaurant reiht und jeder noch so kleine Zentimeter ausgefüllt wird. Hier geht man sogar so weit, das Restaurant zum Wasser gewandt zu öffnen. Das heißt, man kann sich direkt neben das Wasser setzen und hat eine schöne Aussicht auf den Kanal und umliegende Gebäude. Ich rümpfe die Nase, zurückdenkend an meine eben gemachte Erfahrung mit dem „traumhaften“ Wasser Venedig`s, na, guten Appetit, aber eine coole Insta-Story kann man bestimmt trotzdem machen. Ich suche mir ein Restaurant aus, dass eher einem Café gleicht, aber Stühle unter Sonnenschirmen bietet. Mittlerweile echt durstig, frage ich nach einer Flasche Wasser, lehne aber die dargebotene Speisekarte dankend ab, da ich durch die Hitze keinen Hunger verspüre. Das ist der Moment, in dem das freundliche Gesicht des Kellners, der mich gerade noch angelächelt hat, Risse bekommt und er mir plötzlich in gebrochenem Englisch klarmacht, dass man hier nur etwas bestellen darf, wenn man auch etwas isst. Dabei wedelt er mit der Hand, eine Geste, die bedeutet, dass ich verschwinden soll, wie man es mit einer nervenden Fliege oder bei einem schlechten Geruch macht. Gut, dann eben kein Wasser für mich, das im Übrigen zehn Euro gekostet hätte. Auch bei den anderen Restaurants in der Nähe habe ich kein Glück und schiebe mich entmutigt wieder zwischen die Menschenmassen. Hier steht also auch das Geld im Vordergrund und die Stühle unter den Sonnenschirmen sind für die Touristen, die in den Läden ein halbes Vermögen bezahlen. Warum muss sowas immer mir passieren? Aber gut, eine halbe Stunde später in einem kleinen italienischen Laden schaffe ich es endlich, eine Flasche Wasser zu erwerben. Ich wandere eine Weile an den Ufern von Venedigs Kanälen entlang und betrachte die Häuser und Hotels, von denen einige nur mit einem Boot erreichbar sind. Was muss es für ein Gefühl sein, hier zu leben? Mir wird wie so oft an diesem Tag der große Unterschied zu meinem Leben in Deutschland bewusst.
Regeln, Regeln und noch mehr Regeln
Ich erblicke einen typischen italienischen Eisstand und kaufe mir eine Kugel Stracciatella. Im Weitergehen werde ich plötzlich von einer Aufsichtsperson angehalten, die mir klarmacht, dass Essen im Gehen verboten ist. Bitte was? Von all den Tausend Menschen erwischt er ausgerechnet mich dabei, wie ich im Gehen ein Eis esse? Spitze. Und damit nicht genug. Man darf sich hier praktisch nirgendwo hinsetzen, nicht auf Brücken stehen bleiben und nach 19 Uhr auf den Straßen keine Getränke mehr außerhalb von Restaurants trinken. Alles ganz nach dem Motto: „Bei mir kann jeder machen, was er will. Er muss nur die Regeln einhalten“ – Otto Rehhagel.
Die Stille Venedigs
Im Weitergehen erblicke ich ein Luxuskaufhaus, auf dessen Dach sich einige Leute versammeln. Ich gehe durch das Geschäft nach oben, vorbei an Marken wie Louis Vuitton und Prada. Ich bin im Kaufhaus „Fondaco die Tedeschi“. Auf dem Dach angekommen, nehme ich einen tiefen Atemzug. Ich atme. Luft. Ich habe das Gefühl, das ist einer der wenigen Orte Venedigs, wo man wirklich etwas davon abbekommt. Leise. Hier oben ist es so unglaublich still im Vergleich zu der Geräuschkulisse von vor ein paar Minuten. Hier oben verstehe ich die Schönheit Venedigs. So fühlt sich Fernweh an. Am liebsten würde ich für immer hierbleiben und den Schiffen dabei zuschauen, wie sie träge, bewegt von den kleinen Wellen, im Hafen hin und herwiegen.
Schräger als schräg
Als ich diesen Ort verlasse, lande ich nach einer Weile in einem Teil von Venedig, in dem ich auf nur wenige Menschen treffe. Ich überlege, ob es sich hier um ein Wohnviertel handelt, aber die mit Brettern vernagelten Holztüren beweisen das Gegenteil. Ich erblicke an einem Eingang einen Zettel mit italienischer Schrift, auf dem ich die italienischen Worte für „Kunstausstellung“ und „Gratis“ ablesen kann. Ein Lächeln gleitet über mein Gesicht. Ich habe schon einiges von der italienischen Kunst gehört. Von malerischen Städten, die eingebettet zwischen Meer und Landschaft liegen, von romantischen Orten, dargestellt in warme Farben und von alten Skulpturen, die erhabene Tiere oder bekannte Menschen darstellen. Ich schaue in die Halle, die durch einen kleinen Hinterhof einsehbar ist und erstarre. Mir läuft es eiskalt den Rücken herunter. Das ist absolut nicht das, was ich mit der Kunst in Venedig verbinde. An der Decke hängen an dicken eisernen Ketten befestigt, in Silber gegossene zerstückelte Körperteile von Menschen und Tieren. Auf Podesten liegen Köpfe in dem gleichen Silber, deren Gesichter zu einem Schrei verzerrt und erstarrt sind. In der Halle ist keine Menschenseele. Ich mache auf dem Absatz kehrt und laufe wieder zurück, auf der Suche nach den Menschenmassen, in denen ich vorher ertrunken bin. Dieser Anblick wird mir wohl noch eine Weile in Erinnerung bleiben. Stellt man sich so italienische Kunst vor? Aber sind wir doch ehrlich, ich habe doch insgeheim nur darauf gewartet, dass irgendwas passiert, was diese perfekte romantische Vorstellung zerstört.
La Serenissima
In warmes, goldenes Licht getaucht, leuchtet mir abends ein Restaurant entgegen. Auf der Veranda sitzen viele Pärchen bei romantischem Kerzenlicht. Ein über das ganze Gesicht strahlender kleiner Mann mit Speisekarten in der Hand steuert auf mich zu und fragt mich auf Englisch, ob ich hier essen möchte. (Interessant zu wissen, dass ich so „nicht italienisch“ aussehe.) Mittlerweile habe ich auch Hunger und nehme die Einladung dankend an. Die Atmosphäre hier ist traumhaft. Überall hängen goldene Lichterketten und auf den Tischen stehen Kerzen, deren Schatten an der Wand flackern. Die Menschen lachen ausgelassen und im Hintergrund spielen einige Musiker italienische Musik. Ich höre das Lied „Bello e impossible“. Viele der Anwesenden Gäste und Kellner singen ausgelassen zu der gespielten Musik mit. Ich habe schon davon gehört, dass Italiener gern singen, aber im ersten Moment bin ich überfordert. Ich fühle mich wie ein Fremdkörper, gefangen in meiner eigenen Verklemmtheit. Wie ein Kieselstein in einem Meer aus Sand. Aber eigentlich ist es nicht schwer. Nach einer Weile lasse ich mich von dem Gefühl der Leichtigkeit tragen und singe auch mit.