Bild: Hosteleingan

Die Welt-WG

Rebecca Lena PlattnerCulture Clash, 2023, Begegnungen, Länder & Sitten Leave a Comment

Die Welt-WG

Image
,
12. Februar 2023

Das 10er Hostel Zimmer

Ich werde unsanft aus dem Schlaf gerissen. Irgendwo klingelt zum fünften Mal ein Wecker. Was ist das für ein Klingelton? Nicht meiner, mein Handy liegt neben mir. Und generell bin ich nicht in der psychischen Verfassung, dass ich Britney Spears „Baby One More Time“ als Klingelton einstellen würde. Gezwungenermaßen öffne ich die Augen und schaue mich in meinen eigenen 80 cm breiten Königreich um. Langsam begreife ich wieder, wo ich bin. Meine Freundin und ich sind gestern Nacht in einem Hostel in Sevilla angekommen, eine der schönsten Städte Andalusiens.

Ich fühle mich bei der ganzen Sache noch etwas unbehaglich, denn ich habe noch nie in einem Hostel geschlafen. Natürlich nur, wenn man von den Jugendherbergen absieht, in die man während der Schulzeit verschleppt worden ist. Es ist schon 9 Uhr, ich beschließe Zähne putzen zu gehen. Ich schiebe meine Bettgardine zur Seite und betrachte das 10er Zimmer. Warum sind die Betten denn so verdammt hoch gestapelt? Wie soll ich da hochkommen, wenn es doch mal etwas zu viel Sangria gab? Unter Todesangst klettere ich die Leiter herunter und betrete das einzige Badezimmer. Keine Minute später bekomme ich Besuch. Eine braungebrannte junge Frau gesellt sich zu mir und putzt sich neben mir ihre Zähne. Ungewollt erfahre ich ihren Namen (Sofia), Alter (23), Herkunft (Bolivien), Geburtsdatum (23.1.1999) und die halbe Lebensgeschichte. Argwöhnisch stelle ich fest, wie ich mit dieser fremden Frau einen so intimen Moment wie Zähneputzen teilen darf. Personal Space ist in Bolivien anscheinend ein Fremdwort, aber das wusste ich ja bereits aus den kulturspezifischen Seminaren meines Studiums. Trotzdem ist es noch einmal anders das hautnah (haha) zu erleben.

Bild: Zähneputzen mit einer Fremden im Hostel

Das Frühstück

Zurück im Zimmer ist meine Freundin auch aus ihrem Dornröschenschlaf erwacht. Mit einem Blick auf den Balkon erkenne ich auch den Grund dafür. Eine Amerikanerin steht dort und telefoniert auf maximaler Lautstärke mit ihrer Mutter (Stacy, ich finde auch du solltest dich bei deiner Schwester entschuldigen). Um diesen Schwall an Worten zu entkommen, flüchten wir in die Hostelküche. Glücklicherweise haben wir uns gestern auf dem Weg noch belegte Brötchen gekauft, sodass wir unser Frühstück schon parat haben. Zusammen mit einem Kaffee ist das schon fast ein Festmahl. Obwohl die Küche augenscheinlich sauber ist, riecht es seltsam. Ein indisch aussehender junger Mann fragt uns, ob er sich mit zu uns setzen darf. Ich bejahe, bereue dies aber mit Blick auf sein Frühstück. Sieht aus wie Rührei, riecht aber nach Mülltonne. Stolz erklärt er, dass Rührei gemischt mit Thunfisch eine gute Eiweißquelle sei. Stirnrunzelnd google ich diese Mischung und bekomme prompt den Artikel „Schnelles und einfaches Rezept für deinen Hund“ vorgeschlagen. Na dann, guten Appetit.

Bild: Frühstück im Hostel

Die Sightseeing-Tour

Auf dem Plan für heute steht eine Sightseeing-Tour, die von unserem Hostel angeboten wird. Nachdem ich meine Freundin und mich mit 3 Schichten Sonnencreme eingecremt habe, bewegen wir uns Richtung Treffpunkt. Dort angekommen entdecke ich einige bekannte Gesichter. Sofia winkt mich aufgeregt zu sich. Der Tourguide beginnt seine englische Tour auf Spanisch. 2 Minuten später macht ihn jemand darauf aufmerksam. Es geht weiter in einem gebrochenen Englisch. Er führt uns schnellen Schrittes durch ganz Sevilla, bei 34 Grad im Schatten gar nicht so einfach. Als wir am Plaza de España ankommen, tippt mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um und blicke ins Gesicht einer asiatisch aussehenden Frau. Sie stellt sich als Inara aus der Mongolei vor und bittet mich darum, ein Bild von ihr zu machen. Naja, Bild ist der falsche Ausdruck, eher BildER. Anscheinend habe ich die Aufgabe zu ihrer Zufriedenheit erfüllt, denn ab nun drückt sie mir alle 5 Minuten ihr IPhone 14 in die Hand. Noch während der Tour lädt sie 15 Bilder auf Instagram hoch - sportlich. Die muntere Gruppe des Hostels bewegt sich nun Richtung Kathedrale. Diese ist die größte gotische Kirche Spaniens, dementsprechend gespannt bin ich auf den Besuch. Während der Tourguide in Richtung Ticketschalter verschwindet, stellt sich unsere Gruppe in die lange Warteschlange. Überall hört man fremdsprachige Gesprächsfetzen. Sofia erklärt Inara, warum Bolivien eigentlich schöner ist als Spanien. Zwei Engländer, ebenfalls aus dem Hostel, öffnen ihr zweites Bier. Ein Franzose verwickelt mich in mein Gespräch, mehr als der übliche Small Talk kommt dabei nicht rum. Wo ist eigentlich der Tourguide abgeblieben? Ich schaue mich um und sehe ihn auf uns zu laufen. Sein Blick verrät nichts Gutes. Stammelnd erklärt er, dass er sich anscheinend in der Uhrzeit vertan hat und unsere Tickets seit einer Stunde abgelaufen sind. Nagut, dann geht´s halt wieder zurück zum Hostel.

Bild: Verschiedensprachige Gesprächsfetzen in einer Warteschlange

Ein Pool aus Bier

Dort angekommen schnappen wir uns unsere Bikinis, um die Rooftop Bar mit Pool auszutesten. Das haben wir nach der Tortur auch verdient. Dort angekommen erwartet uns eine tolle Aussicht über Sevillas Dächer. Wir setzen uns an den Rand des Pools, der stark überfüllt ist. Auf einmal platscht es. Unter lautem Gelächter rauschen die Engländer, mit ihrem Bier in der Hand, in den Pool. Der Pool besteht nun schätzungsweise aus 30% Bier und 70% Menschen. Meine Freundin und ich wechseln einen wissenden Blick und legen uns auf die Sonnenliegen. Ich fühle mich fehl am Platz. Was für ein Tag. Was für ein Chaos. Warum sind wir nochmal in einem Hostel und nicht in einem Hotel untergekommen?
Bild: Personen, mit Bier in der Hand, springen in den Pool.

Happy Hour

Nach einem kurzen Schläfchen nutzen wir die Happy Hour der Bar aus und gönnen uns eiskalten Sangria. Sofia und ein Freund von ihr gesellen sich zu uns. Er erzählt von seinen Reisen durch Europa und langsam beginne ich mich zu entspannen. Die beiden sind eigentlich ganz cool. Wir wagen noch einen Versuch, unsere Beine im Pool abzukühlen. Bier soll doch gut für die Haut sein, oder? Neben mir sitzt kein geringerer als der selbst gekrönte 5 Sterne Koch aus Indien. Nur diesmal spielt er den Alleinunterhalter für alle im Umkreis von 50 Metern. Sofia erzählt uns von einem Club, in den sie und noch ein paar andere heute Nacht gehen werden. Sie fragt, ob wir mitkommen wollen. Möchte ich wirklich mit Fremden feiern gehen? Naja, ich kann es ja versuchen.
Bild: Happy Hour im Hostel.

The Visit 2.0

Die Zeit ist wirklich schnell vergangen, also gehen wir zurück ins Zimmer, um uns für den Abend fertig zu machen. Ich stelle mich auf ein gut besuchtes Badezimmer ein. Was mich jedoch dort erwartet, überrascht mich doch ein bisschen. Eine Frau um die 70 kommt mir in einem langen, weißen Schlafgewand entgegen. Zu meiner Überraschung mischt sich Furcht, denn sie sieht der gruseligen Oma aus „The Visit“ doch ein wenig zu ähnlich. Ich sollte aufhören, so viele Horrorfilme zu schauen. Auch ältere Menschen dürfen in Hostels übernachten, Rebecca. Wir schminken uns schnell und wählen unsere Outfits, dann geht´s auch schon los.
Bild: Oma im Hostelzimmer

Zwischen Shots und Toilettengesprächen

Im Club quetscht sich unsere bunte Truppe an etlichen schwitzenden Menschen vorbei. Einen ähnlichen Geruch kenn ich sonst nur von eiweißhaltigem Frühstück. Es werden ausschließlich spanische Songs gespielt, das stört uns aber wenig, denn dazu kann man wirklich gut tanzen. Die Stimmung wird immer ausgelassener und ich vergesse die Hürden des Tages. Zwischen Shots und Toilettengesprächen lerne ich die anderen besser kennen. Irgendwie haben wir doch mehr gemeinsam als ich dachte. Auch meine Freundin scheint sich prächtig zu amüsieren. Sie lässt gar nicht mehr von Sofias Kumpel los. Naja, warum nicht. Ich habe ja jetzt neue Freunde zum Tanzen. Normalerweise brauche ich immer viel länger, um mich mit Leuten wohlzufühlen. Doch diesmal ist es anders, ich habe das Gefühl ich kenne sie schon ewig.

Bild: Internationale Gruppe beim Feiern

Fremde Rituale

Der Tag endet, genau wo er angefangen hat: in meinem winzigen Bett. Warte, irgendwas ist falsch. Warum ist es draußen so ruhig? Sonst wird es gerade zur Osterzeit nie leise auf den Straßen Sevillas. Ich wage einen Blick aus dem Fenster und traue meinen Augen kaum. Auf der Straße laufen Gestalten in schwarzen Gewändern mit spitzer Kapuze, zwischendurch erklingt ein Gong. Böse Zungen würden behaupten, es ähnelt dem Ku-Klux-Klan. Kenner wissen, dass das ein Osterumzug zu Ehren Jesu ist. Obwohl ich mich viel mit Kultur auseinandersetze, werde ich immer wieder von manchen Ritualen überrascht.

Liebe zum Chaos

Obwohl es sehr spät ist, liege ich wach und versuche die Eindrücke des Tages zu verarbeiten. Was für ein Trubel und Chaos. Erlebnisse für Wochen in einen Tag gepackt. Seit heute Morgen hat sich einiges geändert und ich frage mich, was mir heute Morgen in den Kaffee gemischt worden ist. Noch vor ein paar Stunden wäre ich am liebsten nach Hause gefahren. Doch irgendwo zwischen all den verrückten Erlebnissen fing ich an, all das zu schätzen. All die fremden Menschen und Städte warten nur darauf von mir entdeckt zu werden. Ich bin 20, in Sevilla und liebe das Chaos.
Bild: Rückblick auf den Tag

Bildquellen:

Pak, G. (2021). Pexels.

Knöchel, P. (2023). Eigene Illustrationen.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert