Jugendliche auf Fahrrad, wobei andere Jugendliche hilft

Fremd für sie – Fremd für mich

Annika WenzelErlebnis, 2023, Begegnungen Leave a Comment

Fremd für sie – Fremd für mich

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10. Februar 2023

Reisen - es lässt dich sprachlos, dann verwandelt es dich in einen Geschichtenerzähler.

Ibn Battuta

Niemals hätte ich gedacht, dass mein Praktikum mich so prägt. Wie in unserem Studium vorgesehen, habe ich ein dreimonatiges Praktikum in einem internationalen Kontext, bei der Kindernothilfe absolviert.

Die Kindernothilfe organisiert jedes Jahr die Internationale Jugendkonferenz, wobei jugendliche Aktivisten aus Partnerorganisationen nach Deutschland reisen und über ihr Engagement aufklären. Im Jahr 2022 waren das jugendliche Klimaaktivisten aus Südafrika und Pakistan. Glücklicherweise wurde ich genau mit diesem Schwerpunkt für mein Praktikum in die Arbeit eingewiesen: die Vorbereitung, Betreuung und Nachbereitung der internationalen Schultour.

Wir begannen die Schultour in Duisburg, wo die Kindernothilfe ihren Hauptsitz hat und unsere Gäste schließlich auch ankamen. Ich bin anfangs ein eher schüchterner Mensch, wobei ich dann schnell auftaue. So war für mich die Konfrontation mit so vielen neuen Menschen auf einmal anfangs etwas befremdlich. Ich konnte mich nicht in meinem Schneckenhaus verkriechen, ich muss Kontakte schließen und Gespräche führen, damit sich die Gäste direkt herzlich empfangen fühlen.

Tage
vergingen...

...und ich schloss gerade die südafrikanische Gruppe in mein Herz: Thobani, Lulama, Sabelo und Sisanda. Immer wieder verdrängte ich, dass ich nur eine Aufsichtsperson für die Jugendlichen war. Ich half den Jugendlichen bei persönlichen Problemen, Heimweh und Streitereien. Meist fühlte ich mich eher wie die große Schwester, die ihre kleinen Geschwister beaufsichtigt und auf sie aufpasst. Der geringe Altersunterschied begünstigte das Ganze noch. Ich 19 Jahre, sie 16-18 Jahre alt. Abgesehen von den wirklich langen Arbeitszeiten, kam es mir immer weniger wie Arbeit vor.
Ein Mädchen, Sisanda, tat es mir besonders an. Sie war meine Bezugsperson in der Zeit und wir verstanden uns nochmal auf einer ganz anderen Ebene.

Wir
reisten...

…durch Deutschland und besuchten fast jeden Tag eine neue Stadt. In den verschiedenen Gymnasien hielten die Jugendlichen Vorträge über die Auswirkungen des Klimawandels in ihren Ländern und Regionen und die Aktionen, die sie dagegen tun. Es wirkt inspirierend. Eines Tages waren wir in Münster, um das Pascalgymnasium zu besuchen. Diese Schule zeichnet sich vor Allem durch ihre Action!Kidz AG aus. Action!Kidz ist eine Kampagne der Kindernothilfe, welche sich gegen ausbeuterische Kinderarbeit einsetzt. Deutsche Schulen, Gemeinden und Freizeitgruppen organisieren verschiedene Projekte, womit auf Kinderarbeit aufmerksam gemacht wird. In Münster sind die Schüler des Pascalgymnasiums auch als “Fahrradputzer” bekannt, wöchentlich organisieren sie in der Fahrradstadt kleine Aktionen, bei dem die Action!Kidz Fahrräder gegen eine kleine Spende putzen. Das Ganze kommt dann der Kidnernothilfe und somit auch den Partnerorganisationen zu Gute.

Nach der
"Arbeit"...

…also den Präsentationen in der Schule, gab es für die jugendlichen Klimaaktivisten noch ein ganz besonderes Highlight: sie lernen Fahrrad fahren. Für uns in Deutschland alles ganz normal, für die Südafrikaner etwas ganz Neues. Viele saßen noch nie auf einem Fahrrad. Schon als ich es morgens den Jugendlichen erzählte, war die Vorfreude und Aufregung groß. Ungeduldig hielten sie ihre Vorträge, trafen die AG-Teilnehmer und warteten auf die Mittagspause, in der sie das Fahrrad fahren lernen durften. Eins war sicher, es war für uns alle eine ganz besondere Erfahrung.

Die Gefühle davor und Startschwierigkeiten

Sie war so unsicher. “Do you think I can do that?”, fragte sie mich ständig. “Of course, if I can do that, then you will learn it very fast, too”. Ich versuche ihr Mut zu machen. Führte ihr vor, wie ich auf das Fahrrad aufstieg und losfuhr. “Wow, it looks so easy when you do it.”, sagte sie. In ihrer Stimme Bewunderung - für mich vollkommen unverständlich. Ich werde in den Himmel gelobt für etwas, was für mich vollkommen selbstverständlich ist.
Dann… Sie traut sich, steigt von einer Erhöhung auf das Fahrrad. “I will fall, I will fall”, stotterte sie. “Sisanda, we got you, nothing bad will happen”, versuchte ich sie zu beruhigen. Sie sitzt, das Fahrrad wankt wegen ihrer ständigen Gewichtsverteilung von rechts nach links. Aber wir haben sie, sie wird nicht fallen.

Angst

Sie tritt das erste Mal ins Pedal, ängstlich, zaghaft. “I can’t maintain my balance, i’m falling”, wiederholte sie immer wieder. “It’s okay. We’re holding you. You have to keep on pedaling.”. Immer wieder tritt sie eine Runde mit dem Pedal und löste den Fuß von der Pedaltrittfläche und lässt ihn in der Luft schweben. “Sisanda, please keep pedaling, we’ll hold you, but you have to pedal.”, sagte ich lachend. Meine Arme werden schwer, aber das macht mir nichts aus. “You can do that”. Langsam aber sicher gewinnt sie an Vertrauen, der Bewegungsablauf verinnerlicht sich. Das Treten in die Pedale wird weniger abgehakt.

Glücksgefühle

Ich muss sie immer weniger stützen. Eine gewisse Sicherheit stellt sich ein. Sie wird mutiger, sie wird schneller. Anstatt 4 Menschen halten sie nur noch 3, nur noch 2 und schließlich nur noch ich. Vorsichtig lasse ich sie los und renne neben ihr her. “You are riding alone, Sisanda. You ride a bike alone!”, lache ich sie an. Sie dreht ihren Körper zu mir “Really?”, fragt sie erstaunt. Sie strauchelt durch die Verteilung des Gewichts auf eine Seite. Schnell greife ich wieder ein, eine Hand an den Lenker, eine Hand an den Sattel. Stütze sie, das Straucheln hört auf. Ruhe kehrt ein. “Look forward”, mahne ich sie halb ernst halb spaßend. Langsam lasse ich sie wieder los: “Yes, you are riding alone. I am only there in case of emergency.” Sie lacht. Diese pure, fast schon kindliche Freude, die einen auch ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Ich muss sie fast schon überreden wieder anzuhalten, damit die nächste Person an die Reihe kommt.

Erinnerung

Kaum hat sie angehalten, übrigens ein ganz neues Problem, Bremsen haben wir noch nicht geübt, kichert sie vor sich hin. “I had to be held by 4 people”, lacht sie zusammen mit Sané, ihrer Betreuerin. “Yes and all of them were needed”, scherzte ich. “It was so much fun, did I really ride alone? Like completely alone?”, fragte sie. “Yes, you are!”, lachte ich sie an. Uns verbindet ein Moment der Freude!

Noch lange nach diesem Tag erinnere ich mich gerne daran. Ein Ereignis was für uns als Jugendliche so selbstverständlich ist, wie Fahrrad fahren können, verschafft einer Gleichaltrigen so viel Freude. Die Situation war für uns beide fremd: Fremd für mich - fremd für sie. Fremd für sie, weil sie in eine komplett neue Situation versetzt wurde. Eine Herausforderung mit riesigen Erfolgserlebnis. Eine unbekannte Situation - Angst, Schwierigkeiten, Freude. Fremd für mich, weil ich nicht erwartet hätte, dass eine solche Situation so viel Freude auslösen kann. Etwas fast schon Nebensächliches für uns, eine Zweckhandlung - Fahrrad fahren - verändert den Tag einer Person so stark, dass sie noch Wochen später davon schwärmt. Das sie dieses Erlebnis als das schönste der Deutschland-Reise in Erinnerung behält.

© alle Bild- und Videoquellen sind von Annika Wenzel oder Sisanda Shingaze 

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