Vier Monate Achterbahn
Notting Hill, Stolz und Vorurteil und natürlich die Harry-Potter-Saga. All diese Filme wurden in malerischen Städten und Landschaften Großbritanniens gedreht. Du hast doch sicher eine direkte Vorstellung, was ich meine, oder? Verträumte Cafés in verwinkelten Gassen, die sagenhaften Küsten der Insel, die Highlands in Schottland, all die wunderschönen Nationalparks.
Als großer London- und Harry-Potter-Fan dachte ich, dass es genau so wird, wenn ich mein Auslandssemester in England verbringe.
"Großbritannien. Eine Großmacht mögen wir nicht sein, aber dafür ein großartiges Land. Wir sind das Land von Shakespeare, Churchill, den Beatles, Sean Connery, Harry Potter, David Beckhams rechtem Fuß, David Beckhams linkem Fuß."
- Love Actually
Doch London ist nicht gleich England...
Die fotogenen Orte Nordenglands
Realität vs. Tourismus
Lebe ich hier -
Oder bin ich nur Touristin?
Jeder kennt diese eine Person, die im Urlaub ständig nur schöne, ästhetische Fotos von den genauso schönen und ästhetischen Orten macht. Hier mal das Handy raus und das Essen fotografieren, da mal die Kamera für schöne Landschaftsaufnahmen. Selten wird damit die Realität abgebildet, das wisst ihr genauso gut wie ich. Und sind wir mal ehrlich, diese typischen Touris kann auch keiner leiden... und trotzdem stelle ich mir die Frage, ob ich nicht auch nur eine von denen bin.
Ich will meiner Familie zeigen, wie schön es hier ist und wie wohl ich mich fühle. Aber ich belüge mich damit selbst. Doch euch will ich nicht belügen. Das hier ist genauso Realität wie die schönen Bilder weiter oben.
Selbsterklärte Mülldeponien, Verbrennungsanlagen für Plastikmüll im eigenen Vorgarten, unglaublich laute Motoren, Alkoholismus, verbrauchte Gestalten, heruntergekommene Fassaden. Und dafür muss ich nicht erst in einen bestimmten Stadtteil gehen, sondern nur aus meinem Fenster schauen. Die Achterbahn hat mich also wieder einmal zurück in die Realität geholt.
Endstation
Ich bin müde, kaputt und überfordert von den ganzen Menschenmassen im Zug. Gut, dass es jetzt nach Hause geht. Der Zug fährt los. Endlich... Auf einmal knallt es.
"Dear passengers, the train has hit something. I have to go and see if the train is damaged."
Ich hab schon so ein flaues Gefühl im Bauch. Irgendwas stimmt hier nicht.
"Dear passengers, we have found a fatality on the tracks. We will recover the person. This may take some time."
Mir stockt der Atem und läuft es kalt den Rücken runter. Erste Tränen steigen mir in die Augen. Ich versuche ruhig zu bleiben und schaue mich im Zug um.
Die Einheimischen sind so entspannt, als würde sowas jeden Tag passieren. Sie trinken ihr Bier, lesen Zeitung, lachen, machen Witze. Jemand schaltet sogar eine Musikbox ein und spielt Partymusik. Auf den Toiletten wird heimlich geraucht. Es wird einfach weitergefeiert. Als wäre es ganz normal.
So fremd hab ich mich noch nie gefühlt. Das war nicht nur der Tiefpunkt meiner Achterbahnfahrt, sondern auch die Endstation einer anderen.
Das Ende meiner reise
Zitternd wähle ich die Telefonnummer meiner Oma. Ich erzähle ihr, wie ich mich gerade fühle, was ich erlebt habe und vorher nicht erzählen wollte. Ich sage zum ersten Mal die unbeschönte Wahrheit über mein Auslandssemester, denn ich wusste, sie würde mich verstehen.
Ich bin am Ende meiner Fahrt angekommen und ich weiß, dass es Zeit ist, auszusteigen.
Der Flug zurück nach Hause ist so gut wie gebucht.
Wie Musik mir bei dieser Reise geholfen hat
Natürlich haben meine Freunde und meine Familie so gut es ging Halt gegeben in den Momenten, in denen ich ihn brauchte. Aber auch Musik, meine große Leidenschaft, hat mir geholfen, die schwierigen Zeiten durchzustehen und vor allem reflektierend meine Erlebnisse zu verarbeiten.
Dafür habe ich einen Song geschrieben.
Hier kannst du ihn hören:
Kommentare 1
Meine liebe Anne,
ich komme leider heute erst dazu, Deinen Bericht über England zu lesen. Tut mir wirklich leid?, dass es nicht so lief, wie Du es dir vorgestellt hast und die Realität doch manchmal ganz anders aussieht. Solche Erfahrungen zeigen einem aber auch, dass das eigene Leben und unsere Heimat gar nicht so schlecht sind. Übrigens, ein toller Song., hat mir sehr gut gefallen;) Wird Zeit, dass wir beide mal wieder was zusammen unternehmen…
Sei ganz lieb gedrückt:)
Dein Tantchen