2024, Erlebnis

Hidden Past

Lena Carina HoffmannErlebnis, 2024 2 Comments

Hidden Past

Die bewegende Geschichte hinter meinem Zuhause in Vilnius.
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19. Januar 2024

Ich stehe mit meinen Eltern und meinen Koffern vor den zwei großen Backsteinhäusern in der Subačiaus Straße in Vilnius.

Die Hausnummer 47, das ist meine. Ich gebe den Türcode ein und wir betreten das Haus, ohne viel auf die Umgebung zu achten. Ich sehe hinter den Häusern eine Art Denkmal, aber wir gehen erstmal schnell rein, denn es ist kalt und ich habe dann bald schon Uni.

Im Haus sehen wir vor uns die Steintreppen, die nach oben führen. Der erste Absatz ist völlig abgelaufen und die Stufen sind schief und krumm.

Wir regen uns beim Hochgehen über diese Stufen auf, denn man muss aufpassen, wo man hintritt, damit man nicht ausrutscht. Das ganze Treppenhaus hat scheinbar seine besten Zeiten schon hinter sich. An den Wänden sind kaputte Steine und auf jedem Absatz ist eine kleine Kammer. Gruselig, finden meine Eltern und ich.

Im 3. Stock angekommen, befindet sich meine neue kleine Wohnung für die nächsten 5 Monate. Ich habe alles was ich brauche. Bett, Bad, Küche. Wenn man aus dem Fenster sieht, blickt man auf eine Grünfläche mit Bäumen und einem kleinen Kinderspielplatz. Sieht doch sehr heimisch und gemütlich aus.

Die nächsten Wochen lebe ich mich so langsam in Vilnius ein. Ich gehe zur Uni, in Cafés, zum Einkaufen. Immer wenn ich das Haus verlasse oder zurückkomme, muss ich die alten Treppen runter und immer beschwere ich mich innerlich und hoffe, dass ich den letzten Absatz nicht runterfalle. Das Denkmal hinter dem Haus ist ein Denkmal für die jüdischen Opfer zur Zeit des Nationalsozialismus, wie ich herausfinde. In einem meiner Kurse an der Universität lerne ich viel über die Kommunikation von Trauma und traumatischen Erinnerungen am Beispiel des Nationalsozialismus und der Judenverfolgung in Litauen.

Als ich nach einem dieser Kurse nach Hause komme, beschließe ich, endlich mal zu versuchen herauszufinden, was es denn genau mit diesem großen Denkmal hinter meinem Haus auf sich hat.

Ich sitze auf meinem Bett und schaue auf dem Bildschirm meines Laptops. Es läuft die Dokumentation „Karl Plagge – Der Gute Nazi von Vilnius“. Bereits in den ersten Minuten sehe ich Aufnahmen von meinem Wohnhaus hier in Vilnius. In der Dokumentation erfahre ich, dass mein Wohnhaus und das Haus nebenan im 2. Weltkrieg, als die Nationalsozialisten Litauen besetzten, zu einem Zwangsarbeitslager für Juden gehörte. Der Heereskraftfahrpark 562, kurz HKP.

In diesen zwei Häuser lebten die Zwangsarbeiter mit ihren Familien. Hunderte starben hier und wurden hier oder woanders in Massengräbern begraben.

Männer, Frauen und auch Kinder.

Damals wurden jüdische Zwangsarbeiter von den Nazis hier eingesperrt und ermordet und heute leben in diesen Häusern Menschen.

Ich lebe in einem dieser Häuser.

Ich erfahre außerdem, dass sich vermutlich zwischen den beiden Häusern, also im Hof auf dem Parkplatz ein Massengrab befindet und ein weiteres auf der anderen Seite des Hauses, ungefähr da, wo jetzt der Spielplatz ist. Die Doku zeigt auch das Treppenhaus mit seinen abgelaufenen Stufen und die Kammern an jedem Treppenabsatz. Augenzeugen berichten, dass sie sich als Kinder in diesen Kammern versteckt haben, als die Nazis kamen, um sie umzubringen.

In der Dokumentation erfahre ich außerdem von Karl Plagge, einem Wehrmachtsoffizier, der alles in seiner Macht liegende versuchte um den Juden zu helfen.

So sorgte er dafür, dass die Arbeiter zusammen mit ihren Familien leben durften, verteilte Arbeitsscheine an Menschen, die für die Arbeit eigentlich nicht geeignet waren und warnte die Juden vor der Auflösung des HKP, wodurch er vermutlich Hunderten das Leben rettete.

Irgendwie ein kleiner Trost.

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Die Häuser früher
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Die Häuser heute

    Als die Dokumentation vorbei ist, bleibe ich erstmal noch sprachlos auf meinem Bett sitzen. Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich sehe mein Zuhause in Vilnius plötzlich mit ganz anderen Augen. Das Treppenhaus hat plötzlich eine Geschichte bekommen. Nein, nicht nur das Treppenhaus, das ganze Gebäude, der Parkplatz und der Spielplatz auch.

    Für mich fühlt es sich komisch an, als Deutsche an einem Ort zu sein, an dem Deutsche anderen Menschen so ein Leid angetan haben.

    Aber das ist die Geschichte meines neuen Zuhause, ob ich will oder nicht.

    Die Enthüllung der Geschichte meines Wohnorts in Vilnius hat meine Sichtweise grundlegend verändert. Die Dokumentation über Karl Plagge und das Zwangsarbeitslager hat mich nachdenklich gestimmt. Die Existenz von Massengräbern zwischen den Häusern und unter dem Spielplatz verdeutlicht die schmerzliche Vergangenheit.

    Es ist herausfordernd, als Deutsche an einem Ort zu leben, der von deutschen Taten gezeichnet ist. Die vermeintlich gewöhnlichen Elemente wie das einst alltägliche Treppenhaus und der Spielplatz tragen plötzlich eine schwerwiegende historische Last. Diese Erkenntnis verpflichtet dazu, die Geschichte zu respektieren und aktiv an einer besseren Zukunft mitzuwirken.

    Quellen:

    zdf-info: "Karl Plagge - Der Gute Nazi von Vilnius"

    Monument / Massagraf Werkkamp HKP Vilnius - Vilnius - TracesOfWar.nl

    The Heeres-Kraftfahr-Park 562 in Vilnius (deathcamps.org)

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