Vertraute Fremde
Alles einsteigen, nächster Halt Selbsterkenntnis!
Eine Reise in die doch vertraute Fremde?Auseinandersetzung mit der eigenen Herkunft und dem Hier und Jetzt sowie einer Mission; es innerhalb von 5 Tagen ans Schwarze Meer zu schaffen und dabei die Familie wiederfinden.
Leipzig Hauptbahnhof, 22 Uhr. Da standen wir also, eines Abends im Sommer 2014.
Ein guter Freund, 2x Rucksäcke, 2x Schlafsäcke, etwas Proviant, ein Zettel mit einer kryptischen Adresse irgendwo im serbischen Nirgendwo und ich mit 19 Jahren. Unser Ziel? Eine Reise in die Fremde. Genauer: Per Zug bis runter ans schwarze Meer, einmal rein und Retour, Sidequest: Meine familiären Wurzeln finden.
Um zu wissen, wohin du gehst, musst du wissen, woher du kommst.
Dieser Spruch hat mir vor langer Zeit mal jemand gesagt. Da war ich 10 Jahre alt. Gemerkt habe ich ihn mir bis heute. Das war nämlich das Jahr, an dem ich erfuhr, dass der Mann, den ich bis dato als Vater erachtete, gar nicht mein leiblicher Vater war. Dass es da noch einen ganzen anderen Teil meiner Familie gibt, welcher aus Ungarn stammt.
Menschen streiten sich, kommen wieder zusammen oder gehen auseinander. Manchmal im Guten, manchmal im Schlechten. Was soll ich euch erzählen, jeder weiß wie das Leben läuft.
Jedenfalls war letzteres der Fall bei meinen Eltern. Bitterböse, könnte man sagen. Long Story Short, das hieß keinen Kontakt zu meinem leiblichen Vater und zu dem Familienteil. Hat mich jemand gefragt? Nö. War ja auch erst 1 Jahr alt, als das passierte. Ich werfe niemanden was vor. Im Gegenteil, ich darf mit Dankbarkeit behaupten, dass ich wohlbehütet aufgewachsen bin. Als Kind hat es mir an nichts gefehlt.
An nichts, und trotzdem fühlte ich mich irgendwie halb. Nicht ganz vollständig. Fremd. Komischerweise fühlt man das schon als Kind, jedenfalls soweit ich mich erinnern konnte, ging es mir schon immer so. Seit dem Zeitpunkt, an dem ich wusste warum, wollte ich das ändern.
Was über die Jahre folgte, waren vergebliche Versuche, meinen Vater in Deutschland aufzuspüren. Irgendwie nicht so leicht, hatte ich doch keinen weiteren Anhaltspunkt, bis auf eine Adresse in einer deutschen Großstadt, von welcher er bereits verzogen war.
Wie im Film man
Mit 18 schließlich startete ich einen neuen Versuch, damals ging es auf die Behörden vor Ort. Von dort nach langen hin und her, an die letzte dort gemeldete Adresse. Per Zufall erhielt ich von dem Nachbarn, tatsächlich lange Zeit ein guter Freund meines Vaters, eine Adresse. Nicht innerhalb Deutschlands, sondern in Serbien.
Genauer gesagt in die unmittelbare Region um die Stadt Werschetz (serbisch: Vršac). Diese Grenzstadt ist heute Teil von Serbien, gehörte aber lange Zeit zu Rumänien und davor zur Habsburgermonarchie Österreich-Ungarn. Ein Teil der Vorfahren meiner Familie zählten zu den sogenannten Donauschwaben, Deutsche aus dem westlichen Raum Deutschlands, welche zur Wiederbesiedlung Ungarns nach den Kriegen gegen das Osmanische Reich dorthin auswanderten.
Soviel zur Geschichte. Nun war ich auf dem Weg dahin.
Zeitsprung ins Hier und Jetzt
1 Jahr hat es noch gedauert, doch dann ging der erste Zug von Leipzig nach Wien. Von Wien weiter nach Budapest.
Was für eine eindrucksvolle, facettenreiche und vor allem geschichtsträchtige Stadt.
Irgendwie komisch, ich fühlte mich hier fast wie zu Hause. Als wäre ich schon oft hier gewesen. Meinem Freund ging es überhaupt nicht so. Interessant zu beobachten, dachte ich mir damals. Sind wir doch beide hier zum ersten Mal und doch fühlt sich einer fremd, der andere wie zu Hause.
Unterwegs gab es noch zahlreiche solcher Momente, alle aufzuzählen, würde aber den Rahmen und die Nerven des Lesers strapazieren.
1 Nacht später ging es auch schon weiter Richtung Rumänien. Genauer gesagt nach Timişoara, eine Stadt in der Region Banat, nicht weit entfernt von Werschetz.
Von hier direkt nach Werschetz. Die Anspannung stieg.
Dort angekommen, und eine weitere holprige Busfahrt später, stehen wir schließlich vor der mutmaßlichen Adresse.
Ein eher unauffälliges Wohnhaus. Ich gehe näher heran und schaue mir die Namen auf der Türklingel an. Und tatsächlich, da steht der Familienname meines Vaters, schwarz auf weiß. Na ja, eigentlich eher rot auf weiß, aber gut. Ich nehme all meinen Mut zusammen und läute die Klingel. Eine Frauenstimme ertönt. Ein wenig verwirrt antworte ich in gebrochenem Ungarisch, wer ich bin und wen ich suche.
Tja, die Frau war meine Tante. Ab hier ging alles ganz schnell. Tante, Oma, Bruder und Vater. Sie alle lernte ich kennen. Was für ein Tag. Was für ein Gefühl. Fremdheit wandelte sich zu Vertrautheit.
Bis ans schwarze Meer haben wir es im Anschluss übrigens geschafft. Und wie wir das haben, trotz des schlechten Wetters, ein super Anblick für uns.