Nicht alles so ernst nehmen

Nicht alles so ernst nehmen

Brian Frank KellerErlebnis, 2024 1 Comments

Nicht alles so ernst nehmen

Von Vorfreude, Krankheit und Lichtblicken
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16. Januar 2024

Vorfreude

Früh morgens in Berlin. Ich kann nicht mehr schlafen und mache mich auf zum Terminal. Auch nach dem Check-in bin ich drei Stunden zu früh da. Ein Baguett, ein Kaffee und ein paar YouTube Videos. Die Zeit scheint einfach nicht vergehen zu wollen. Eine Durchsage nach der anderen versucht, unter meinen Kopfhörern in mein Ohr zu kommen. Jedes Mal sitze ich da mit der Angst, die Absage meines Fluges zu vernehmen. Wahrscheinlich bin ich aber auch einfach zu aufgeregt

Nicht alles so ernst nehmen
Nicht alles so ernst nehmen

    Endlich, die Zeit ist gekommen und ich steige in den Flieger. Eine Weile später und ich lande in Manchester. Schnell noch mit dem Bus nach Bradford, währenddessen die ersten Bekanntschaften machen und nun endlich, endlich bin ich da.

    Das Hauptgebäude der Universität ist verziert mit einer Regenbogenflagge direkt vor dem Eingang. Das Rathaus ist in den verschiedensten Farben beleuchtet. Die Lichterketten hoch oben zwischen den einladenden Gassen gehangen, spiegeln sich auf den Pfützen des vorherigen Regenschauers. Hierauf habe ich so lange gewartet. Vier Monate britische Universität und ich mittendrin. Jetzt kann es losgehen

    Das mir zugewiesene Zimmer, in einem Haus mit zehn anderen Studenten und geteilter Küche, ist zwar klein, aber ehrlich gesagt: viel mehr habe ich auch nicht erwartet. Ich bin es seit Beginn meiner Studienzeit auch nicht wirklich anders gewöhnt. “Für die Zeit hier wird es schon ausreichen”.

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    Nur wusste ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass ich in eben jenem Zimmer den Großteil meiner ersten anderthalb Monate verbringen würde.

    Krankheit

    Nach nur zwei Wochen erwischte mich eine Erkältung mit Halsschmerzen. Anfang Februar in einer regnerischen Region war das wohl zu erwarten. Ein paar Tage Tee, dachte ich, und es wird wieder. Doch die Erkältung verschwand nicht. Nach längerer Erkältung spürte ich einen plötzlich starken Druck auf den Ohren. Trotz leicht eingeschränkter Hörfähigkeit ging ich weiter zu meinen Vorlesungen. Doch der Gedanke, einen Arzt aufzusuchen, ließ mich nicht los.

    Auslandsstudenten in Bradford müssen vor Ort einen bestimmten Antrag stellen und erhalten nach unbestimmter Wartezeit per SMS eine Antwort, bevor sie einen Arzt aufsuchen können. "Nun gut, viel Auswahl habe ich sowieso nicht. Stelle ich eben diesen Antrag." Jetzt hieß es nur noch warten.
    Oh, und wie ich gewartet habe.

      Krankheit
      Innerhalb von zwei Tagen verschärfte sich der Druck zu unerträglichem Schmerz. Jede Bewegung war schmerzhaft, und meine Mobilität war stark eingeschränkt. Nacht für Nacht wechselte ich zweimal mein Oberteil vor Schweiß. Täglich starrte ich auf mein Handy, in der Hoffnung auf die ersehnte SMS, die jedoch ausblieb. Erst Tage später konnte ich Ibuprofen im Supermarkt kaufen, was mir langsam Erleichterung brachte.

      Der Kalender bewegte sich nun auf Ende Februar zu und ich konnte zu dem Punkt jede Textur der Raufasertapete neben meinem Bett auswendig, wusste jedes Loch im Teppich und jede schräg eingeschraubte Schraube an meinem Schreibtisch. Die Ohrenschmerzen schwanden allmählich dahin, als eine Gruppe meiner in Bradford gefundenen Freunde mich einlud, mit nach London auf einen längeren Wochenendausflug zu kommen. Mein kleines Zimmer hatte ich nun mehr als satt und so willigte ich ein. Endlich kam ich mal raus. Am ersten Tag machten wir eine Tour durch die Stadt, besuchten die typischen Attraktionen und endeten im wundervoll beleuchteten Chinatown.

      Wir planten die nächsten Tage und gingen zu Bett. Am nächsten Morgen holten wir uns Frühstück und machten uns auf. Jedoch hatte ich hier schon ein unwohles Gefühl im Magen. Dieses verschlimmerte sich in den nächsten Stunden und um dies einmal kurz zufassen: Ich hatte eine Lebensmittelvergiftung. Meine Übelkeit unterdrückend lief ich mit den Anderen mit, versuchte ihre Erlebnisse mit meiner Krankheit nicht negativ zu Beeinflussen. Jedoch kamen langsam Gedanken auf:

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        “Was mach ich denn hier? Ich bin seit über einem Monat in England. So lange habe ich mich darauf gefreut und alles, was ich kann, ist nur krank in einem Bett zu liegen. Alle anderen schaffen es doch. Alle anderen haben Spaß zusammen, machen Erfahrungen und sehen das Land. Nur ich wechsel von der einen Krankheit in die andere, liege in meinem Bett und bemitleide mich selbst. Das ist doch erbärmlich! Wenn das so weitergeht-”

        WOAH … Okay …  stop … tief einatmen … und ausatmen. You got this.

        Lichtblicke

        “You got this”- ein Satz, den ich für den Rest des Abends immer wieder wiederholt habe. Am nächsten Tag, wenn auch noch nicht komplett wieder genesen, aber dennoch besser, traten wir die Rückreise mit unserem Bus an. Ich habe versucht, das Beste zu sehen. Immerhin  habe ich einen Trip mit Freunden nach London gemacht und die Stadt nach über drei Jahren mal wieder gesehen. In meinen Gedanken versunken, jetzt schon nachts und mit dem Bus auf der Autobahn, wurde es auf einmal kalt und windig. Windig? Im Bus? Wie von einer Fernbedienung aktiviert, drehten meine Freunde und ich uns gleichzeitig um und fanden wie prompt die Ursache. Nachts, mitten auf der Autobahn, ohne ein Geräusch, ist dem Bus bei voller Fahrt eine der hinteren Seitenscheiben herausgefallen. Wir schauten uns alle ein paar Sekunden an und fingen zusammen an zu lachen. Auch wenn mir kurz erneut der Gedanke von Krankheit bei der kalten Luft kam, die in den Bus strömte, war die Situation einfach zu lächerlich, um nicht zu lachen. Und auch wenn dies etwas willkürlich erscheint, war dies der Moment wo ich mir dachte “Manchmal sollte ich auch einfach nicht alles so ernst nehmen.” 

        Die nächsten zwei Wochen gingen in Bradford sehr ruhig zu. Aber vor allem die Krankheiten blieben aus. Ich konnte die Lebensmittelvergiftung schnell auskurieren und mich endlich vollends auf die Vorlesungen konzentrieren. Ich konnte meinen Hobbies nachgehen und den ein oder anderen Abend auch mal mit einem Freund in eine Bar. Mit diesem Freund verbrachte ich dann auch die meiste restliche Zeit in Bradford. Zusammen planten wir auch einen Trip nach Edinburgh. Einer der schönsten Städte, die ich je gesehen habe und deren Erinnerung ich noch lange behalten werde. Es war auf dieser Reise, als an einem Tag mein Handy vibrierte, ich es rausholte und kurz meinen Augen nicht trauen konnte. Erreicht hatte mich eine SMS. Die SMS, auf die ich vor einigen Wochen so stark gehofft habe. Ab dem Zeitpunkt, nachdem ich seit über drei Wochen gesund war, konnte ich endlich einen Arzt aufsuchen! Ein Dienst, von dem ich für den Rest meines Auslandsaufenthaltes keinen Gebrauch mehr machen musste.

        Und so ging meine Zeit in Bradford dem Ende entgegen. Kurz vor meiner Reise bekamen die Gänse, welche in dem Teich der Wohnanlage lebten, noch Küken. So verbrachte ich noch Stunden in der warmen Mai-Sonne beim Beobachten der frisch gebackenen Eltern mit dem Gedanken, dass ich nicht immer alles so ernst nehmen sollte, denn auch die kleinsten Dinge können einen aufheitern.

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          © Bild- und Videoquellen von Brian Frank Keller
          Animation erstellt auf Basis von lizenzfreien PNGs

          Kommentare 1

          1. Ein sehr eindrucksvoller Text, vielen Dank für das Teilen des Erlebten!
            Krankheit im Ausland sind gruselig und anstrengend aber dein Text ermunterd und bestärkt einen trotz der Herausforderungen mehr von der Welt sehen zu wollen, mehr Bekanntschaften zu knüpfen, mehr auf die kleinen, alltäglichen Glücksmomente zu achten. „You got this“ schwingt nicht nur durch den gesamten Blogeintrag bis zum Ende mit, sondern bekräftigt nun auch die lesende Person selbst – Danke!

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